Als Heinrich Himmler, der oberste Chef der SS, der Gestapo und aller repressiven Dienste des Regimes, am 12. Dezember 1935 seine Unterschrift unter das Registrierungsformular für die Satzung des Vereins "Lebensborn" setzte, startete er ein völlig neues Programm: Er wollte eine "höhere Rasse nordischer Germanen" schaffen, die die zukünftige Elite des Dritten Reiches verkörpern sollte.
Zu diesem Zweck hatte er eine Reihe von speziellen Säuglingsstationen gegründet, in denen Frauen, die von einem Mitglied der SS oder eines Sicherheitsdienstes schwanger waren, ihr Kind zur Welt bringen konnten. Dort sollte es über neun Jahre lang überwacht werden. Um Zugang zu diesen Einrichtungen zu erhalten, mussten die werdenden Mütter jedoch schwülstige anthropologische Untersuchungen durchlaufen, die beweisen sollten, dass sie den vom Hitler-Regime festgelegten Kriterien der "arischen" Rassenreinheit entsprachen. Von den Vätern wurde aufgrund der Selektion bei der Rekrutierung von vornherein erwartet, dass sie diese Kriterien erfüllten. So wollten die Nazis "perfekte" Kinder zur Welt bringen: Groß, blond, blauäugig.
Der Verein "Lebensborn" (altdeutsch für "Brunnen des Lebens"), der auf einer Mischung aus fehlgeleiteten, rassistischen genetischen Theorien und germanischer und skandinavischer Mythologie beruhte, war eine Grundlage der nationalsozialistischen Rassenpolitik. "Die nordische arische Rasse ist [...] die wahre Repräsentation der gesamten Menschheit und [...] das deutsche Volk muss die Reinheit seiner Rasse bewahren", schrieb Adolf Hitler in "Mein Kampf" (1925). "Die germanische Rasse ist allen anderen überlegen und der Kampf [...] gegen die minderwertigen Rassen ist heilig". 1935, zwei Jahre nach der Machtergreifung der NSDAP, träumte Heinrich Himmler laut von einem Nazi-Staat, der 1980 von "120 Millionen nordischen Germanen" bevölkert sein würde.
"Die Rasse reinigen"
Denn dieses wahnsinnige Projekt war auch eine Säule der natalistischen Ambitionen des Reiches. Und es verkörperte die wichtigste Funktion, die den deutschen Frauen zugedacht war: Sie sollten den Dienst am Führer erfüllen, indem sie dem Regime möglichst viele Neugeborene schenkten. "Die Nazis wollten die 700.000 Abtreibungen pro Jahr in Deutschland bekämpfen, die sie als eine demografische Geißel betrachteten", erklärt Georg Lilienthal, Experte für NS-Medizin und Eugenik und Autor des Werkes "Association déclarée d'utilité publique" (1985). Himmler glaubte, die Geburtenrate erhöhen und gleichzeitig "die Rasse reinigen" zu können.
Die SS-Entbindungsstationen nahmen daher viele junge Mütter auf und ermöglichten ihnen, anonym zu gebären. Uneheliche Kinder konnten in der Einrichtung zurückgelassen werden, um von "Musterfamilien" adoptiert zu werden. Alle Spuren ihrer Herkunft wurden dann verwischt, vom Namen der Eltern bis zum Ort ihrer Geburt. Nur die Verantwortlichen kannten ihre Abstammung, die in einem geheimen Personenstandsregister festgehalten wurde.
Kinder zu bekommen bedeutete, den "Dienst am Führer" zu erfüllen
Die erste Entbindungsstation des "Lebensborn" wurde am 15. August 1936 von Reichsführer-SS Heinrich Himmler persönlich in Steinhöring, einem kleinen Dorf in Bayern, eingeweiht. Die Kinderstube mit dem Namen "Hochland" war für die Aufnahme von bis zu 50 Müttern und 109 Säuglingen ausgelegt.
In knapp neun Jahren wurden in dem großen Haus unter der Leitung von Dr. Gregor Ebner, SS-General und Himmlers Hausarzt, 3.000 Kinder geboren. Die Entbindungsstation Steinhöring diente als Modell für die rund 20 anderen "Lebensborn"-Einrichtungen, die zwischen 1937 und 1944 in Deutschland und später im besetzten Europa entstanden
Die Nazis exportierten ihr Programm nämlich in alle Länder, in denen sie glaubten, "rassisch wertvolle" Kinder bekommen zu können. Insgesamt wurden etwas mehr als 21.000 Babys in diesen Nazi-Kliniken geboren: Etwa 12.000 in Norwegen - der mythischen Wiege der "nordischen Rasse" -, 9.000 in Deutschland sowie einige Hundert in Österreich, den Niederlanden, Dänemark, Luxemburg, Belgien und Frankreich. Zwischen Februar und August 1944 war in Lamorlaye (Oise), am Rande des Waldes von Chantilly, etwa 40 km nördlich von Paris, eine Entbindungsstation von "Lebensborn" in Betrieb.
"Lebensborn"-Entbindungsstation Lamorlaye (Oise)
Einundzwanzig Frauen aus Frankreich, Belgien und den Niederlanden, die von einem SS-Mann oder einem Gestapo-Mitglied schwanger waren, hielten sich im Herrenhaus Bois Larris, einem wohlhabenden Anwesen im anglonormannischen Stil, auf und brachten dort ihre Kinder zur Welt. Höchstens 23 Kinder wurden dort geboren. Unter ihnen war auch Erwin Grinski, der am 21. Mai 1944 um 23:55 Uhr geboren wurde.
Der Mann, der heute auf die 80 zugeht, erfuhr die Wahrheit über seine Herkunft erst nach dieser Untersuchung. Seine Mutter, die ihn immer Hervé genannt hatte, war zwei Jahre zuvor verstorben und hatte ihm nie von Lamorlaye oder seinem biologischen Vater erzählt. Erwin Grinski hatte seitdem weitere Informationen gesammelt. Er sagte: "Ich habe recherchiert, dass es sich um einen hohen SS-Offizier handelte, der Himmler nahestand. Ich war erleichtert, endlich zu wissen, wer er wirklich war, auch wenn ich der Meinung bin, dass er nur mein Erzeuger war."
Wie er wurden Tausende von Kindern, die in SS-Geburtenhäusern geboren wurden, erst sehr spät in das Geheimnis ihrer Herkunft eingeweiht, indem sie die Geheimnisse ihrer Mütter am Abend ihres Lebens erfuhren oder komplizierte Verwaltungsverfahren einleiteten.
Andere hatten ein anderes Schicksal: Ab 1944 wurden die in der NS-Einrichtung zurückgelassenen Kinder im Zuge des Zusammenbruchs der Wehrmacht zunächst bis zum "Mutterhaus" in Steinhöring zurückgeführt. Im Mai 1945 wurden sie von US-amerikanischen Truppen gefunden. Einige wurden identifiziert und ihren Müttern zurückgegeben. Viele andere, deren Abstammung ausgelöscht worden war, fanden sich in Pflegefamilien wieder, einige wurden adoptiert.
Die "Reinigung der Rasse"
Der "Lebensborn" war die Matrix der von den Nationalsozialisten gewünschten Welt. Während Heinrich Himmler von jeder Geburt eines neuen "perfekten Kindes" schwärmte, organisierte die SS, die Ausrottung der europäischen Juden und aller "unerwünschten" Personen, die in diesem Zuge in Konzentrationslager verbracht wurden. Noch heute wird dieser Teil der Geschichte von Expert:innen erforscht: Erst kürzlich ist eine 70 Jahre alte Geheimbotschaft aus dem KZ Auschwitz entschlüsselt worden, welches von Fachleuten zuletzt erstmals virtuell rekonstruiert worden ist. "Der Lebensborn und die Shoah waren zwei Seiten ein und derselben Medaille, der nationalsozialistischen Rassen- und Bevölkerungspolitik", betont Georg Lilienthal.
Dennoch wurden im März 1948, am Ende des achten der zwölf großen Nürnberger Prozesse gegen die Verantwortlichen der "Rassensäuberung" wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit - einschließlich der Entführung und "Germanisierung" von 50.000 Kindern in Europa - die drei anwesenden "Lebensborn"-Führer (Himmler hatte am 23. Mai 1945 Selbstmord begangen) - Max Sollmann, Gregor Ebner und Günther Tesch - nur wegen ihrer Mitgliedschaft in der SS verurteilt.
Sie plädierten auf "nicht schuldig" und konnten das Gericht davon überzeugen, dass sie eine Wohltätigkeitsorganisation geleitet hatten, die Müttern in Not bei der Geburt half. Bis heute sind die Lebensborn-Kinder im Alter zwischen 79 und 88 Jahren die letzte Gruppe von Nazi-Opfern, die nicht offiziell anerkannt wurde. Ein tragisches Relikt der deutschen Geschichte, ebenso wie auch das Schicksal der jungen Anne Frank.
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Verwendete Quellen:
Lebendiges Museum Online: "Der 'Lebensborn e. V.' der SS"
Planet Wissen: "Nationalsozialistische Rassenlehre: Lebensborn - Kinder für die Nationalsozialisten"
Aus dem Französischen übersetzt von GEO