Sussex hat in der Geschichte Großbritanniens eine entscheidende Rolle gespielt, insbesondere während des Mittelalters. Von einem unabhängigen angelsächsischen Königreich wurde es schließlich zu einer der sieben politischen Haupteinheiten (Essex, Ost-Anglia, Kent, Mercien, Northumbria, Wessex und Sussex), die die Heptarchie und später das Königreich England bildeten - und die ganz nebenbei die sieben Königreiche auf dem Kontinent von Westeros in "Game Of Thrones" inspiriert haben.
Doch die Region im Süden Großbritanniens könnte eine noch komplexere Geschichte haben, wie neue Forschungen von Dr. Michael Shapland, einem Archäologen mit Schwerpunkt auf historischen Gebäuden am Institut für Archäologie des University College London (England), nahelegen. In einem Artikel, der demnächst in den Sussex Archaeological Collections vom Juli 2024 veröffentlicht wird, argumentiert der Spezialist, dass Sussex in Wirklichkeit einst aus mindestens drei Königreichen mit unterschiedlichen Ursprüngen bestand. Eines davon, das längst in Vergessenheit geraten war, habe sich sogar jahrhundertelang der sächsischen Herrschaft widersetzt.
Wie entstand das Königreich Sussex?
Die Ursprünge von Sussex sind komplex, leitet der Forscher in einer Pressemitteilung ein. Im Jahr 410 n. Chr. und nach vier Jahrhunderten der Besetzung verließen die römischen Legionen Großbritannien. Der Untergang des Weströmischen Reiches leitet das Mittelalter ein. Die Inseln zersplittern in ein Mosaik aus kleinen, sich bekriegenden Königreichen. Mehrere germanische Stämme (Schotten, Pikten) wandern ein und siedeln sich an. Und die Sachsen, die aus Nordwesteuropa kommen, sind Teil dieser allgemeinen Eroberung.
Die Angelsächsische Chronik (Anfang des 12. Jahrhunderts) berichtet, wie der legendäre sächsische Kriegsherr Ælle im Süden der Insel landete, 491 die Festung Pevensey einnahm und alle seine Gegner, die Inselbretonen (Celtic Britons, auf Englisch), niedermetzelte. Das Manuskript macht ihn somit zum ersten der bretwaldas, der "Herren von Britannien". Obwohl diese Ereignisse nur schwer nachprüfbar sind - zeitgenössische schriftliche Quellen sind eher Mangelware - wird Ælle traditionell als Gründer des Königreichs Sussex angesehen, das mit einem eigenen politischen, kulturellen und wirtschaftlichen System florierte.
Die nunmehr als "Südsachsen" bezeichneten Sachsen brachten ihre heidnische Religion mit, die das von den Römern eingeführte Christentum ersetzte. Historiker:innen gingen daher lange Zeit davon aus, dass Sussex im Heidentum verblieben war, bevor die sächsischen Königreiche im 7. Jahrhundert bekehrt wurden. Die Region galt sogar als eine der letzten, die das Christentum annahm, bis es Wilfrid, dem Bischof von Northumbria, gelang, Æthelwealh, den letzten König der Südsachsen, zur Taufe zu bewegen.
Das mittelalterliche Sussex - ein geteiltes Königreich?
In all diesen Berichten wird Sussex als ein angeblich geeintes sächsisches Königreich dargestellt. Dem Archäologen Michael Shapland zufolge könnte es im Mittelalter jedoch letztlich in drei Einheiten geteilt worden sein, die ungefähr dem heutigen Ost-Sussex, West-Sussex und der Umgebung der Stadt Hastings entsprechen: "Es gibt eine Lücke in den archäologischen Aufzeichnungen über die sächsische Besiedlung in West-Sussex", erklärt der Experte. "Dies ist östlich des Flusses Arun nicht der Fall, wo es reichlich Beweise für eine jahrhundertelange Ansiedlung unter Ælle und seinen Nachfolgern gibt."
Der Region West Sussex mangelt es nicht nur an sächsischer Archäologie. Es mangelt ihr auch an Überresten früherer Siedlungen der alten Bretonen. Der große Steinsaal aus dem 5. Jahrhundert n. Chr., der bei der Ausgrabung der letzten erhaltenen Strukturen der römischen Villa Batten Hanger nördlich der Hauptstadt Chichester entdeckt wurde, ist einer der wenigen, die in Großbritannien bekannt sind.
Laut Michael Shapland scheinen auch einige Teile der Geschichte nicht richtig zusammenzupassen. Zwar wurde der "Erfolg" der Christianisierung des Königreichs Sussex weitgehend dem Heiligen Wilfrid zugeschrieben, doch gab es in Wirklichkeit bereits vor seiner Ankunft mehrere Kirchen in der Region. Dies ist nicht verwunderlich, da im Norden und Westen post-römische Königreiche (Glastonbury, Lindisfarne und Iona) es geschafft hatten, ihre christliche Identität trotz der sächsischen Invasion zu bewahren.
Wie ist es sonst zu erklären, dass der Ordensmann sich dafür entschied, in Selsey eine Abtei zu errichten und sie zum Sitz des Bistums der Südsachsen zu machen? Die römische Stadt Chichester, etwa zehn Kilometer südlich, schien geeigneter zu sein; sie ähnelte eher den Standorten, die in anderen angelsächsischen Königreichen gewählt wurden, wo bereits Kathedralen gebaut wurden. Am wahrscheinlichsten, so der Experte, war, dass es in Selsey bereits eine Kirche gab, die Wilfrid lediglich für sich beanspruchte.
Der Sachse Æthelwealh, ein "edler Bretone"
Das letzte Element, das der Archäologe anführt, ist der Name Æthelwealh selbst, der im Altenglischen wörtlich übersetzt "edler Bretone" bedeutet. "Warum benutzte dieser angebliche sächsische König einen so bretonischen Namen? Vielleicht, weil er gar kein sächsischer König war", vermutet er. Diese komplexen Beweise zusammengenommen legen nahe, dass, während seine Nachbarn der germanischen Herrschaft erlagen, der westliche Teil von Sussex Jahrhunderte als unabhängiges christliches Königreich überdauert haben könnte.
Was danach geschah, ist unter Historiker:innen besser bekannt. "Wilfrids Einfluss in Sussex führte schließlich zur Destabilisierung des Königreichs", erzählt Michael Shapland. "Æthelwealh wurde 685 von einem Prinzen der Westsachsen namens Cædwalla im Kampf getötet - zum Teil unter Wilfrids Einfluss." Cædwalla, der König von Wessex wurde, annektierte Sussex in seine eigenen Gebiete. Und aufgrund des Verlaufs der Machtspiele im frühmittelalterlichen Großbritannien wird die Region unter der Herrschaft verschiedener angelsächsischer Königreiche stehen.
Heute gibt es kaum noch Hinweise auf das rätselhafte Ende dieser "Unbeugsamen" - außer den Zeilen zwischen den Zeilen, die der Experte aufzuspüren versucht hat. In Selsey ist die Abtei aus der Zeit von Æthelwealh völlig verschwunden. An derselben Stelle steht nun eine einfache Kapelle aus dem 13. Jahrhundert, die St. Wilfrid's Church Norton, umgeben von den grünen und malerischen Landschaften von Sussex.
Zuletzt hat auch ein weiterer Fund in Großbritannien für Furore gesorgt: Unter einem Parkplatz wurde eine alte römische Statue gefunden. Und auch in Schweden gab es dank der Untersuchung alter Artefakte neue Erkenntnisse über eine mittelalterliche Stadt.
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Verwendete Quellen:
Pressemitteilung: "West Sussex’s lost Early Medieval Kingdom rediscovered"
Cambridge University Press: "A Late Roman ‘Hall’ at Batten Hanger, West Sussex"
Sussex Parish Churches: "Selsey – St Wilfrid, Church Norton"
Aus dem Französischen übersetzt von GEO