Bevor der "Mount Everest" zu einem (fast) gewöhnlichen Reiseziel wurde, war er jahrzehntelang der ultimative Traum aller Bergsteiger:innen. Rutschige Wände, Schneestürme, Gletscherspalten, Erschöpfung, Sauerstoffmangel - 8.848 Meter Hölle, an denen sich die Menschen immer wieder messen wollten. Zu diesen Menschen gehörten George Mallory und Andrew Irvine. Vor genau 100 Jahren, im Juni 1924, begannen die beiden britischen Bergsteiger mit dem Aufstieg. Sie kehrten nicht mehr zurück. Ihre Geschichte ist heute Teil der "Everest"-Legende und ein Rätsel bleibt für immer ungelöst: Haben sie den Gipfel je erreicht?
Ihr Expeditionspartner, der Geologe Noel Odell, war der letzte, der sie am Morgen des 8. Juni lebend gesehen hatte. „Meine Augen richteten sich auf einen kleinen schwarzen Punkt, der sich auf einem kleinen Schneerücken unter einem Felsvorsprung des Grats abzeichnete; der schwarze Punkt bewegte sich. Ein weiterer schwarzer Punkt wurde sichtbar und stieg durch den Schnee hinauf, um den anderen auf dem Grat zu erreichen", schrieb er später in sein Tagebuch.
Für Odell besteht kein Zweifel: Die beiden Männer starben beim Abstieg, nachdem sie den Gipfel erreicht hatten. Nichts deutete darauf hin und es dauerte bis zum 29. Mai 1953, bis Edmund Hillary und Tensing Norgay offiziell die ersten Menschen waren, die den Gipfel des Everest erreichten.
Die beiden Leichen sind heute nicht mehr auffindbar
Die Geschichte von Mallory und Irvine endete jedoch nicht an diesem Tag im Juni 1924. Sie hat im Laufe der Jahre viele Wendungen genommen und wirft heute eine neue Frage auf: Wo sind die sterblichen Überreste der beiden Bergsteiger geblieben? Im Mai 1999 entdeckten der Bergführer Eric Simonson und der amerikanische Bergsteiger Conrad Anker die Leiche von George Mallory in 8.290 m Höhe an der Nordwand des "Mount Everest". Sein Körper ist im Eis eingefroren und extrem gut erhalten. Der Körper wurde an Ort und Stelle gelassen und von Simonson und Anker mit Steinen bedeckt. Irvines Körper wurde von dem amerikanischen Team nicht freigelegt. Die Aussage eines chinesischen Bergsteigers - Wang Hongbao - im Jahr 1975 lässt jedoch vermuten, dass seine sterblichen Überreste nicht weit von Mallory entfernt lagen.
Ewige Ruhestätte auf dem "Everest"
Der Guardian hat diesem Geheimnis einen Artikel gewidmet, in dem unter anderem der Bergsteiger Jamie McGuinness zu Wort kommt. Er hat den Gipfel fünfmal von der tibetischen Seite aus bestiegen und das Gebiet während einer Expedition im Jahr 2019 gründlich untersucht. Er kam zu dem Schluss, dass die Leichen der beiden britischen Bergsteiger in den 2000er Jahren verschleppt worden waren.
„Es ist ziemlich sicher, dass Irvines Körper nicht mehr dort oben liegt“, sagte McGuinness. Mark Synnott, ein amerikanischer Bergführer und Autor von "The Third Pole", war Teil von McGuinness' Expedition und kletterte genau bis zu der Stelle, von der angenommen wurde, dass Irvines sterbliche Überreste dort lagen - ohne jedoch etwas zu finden. Trotz genauer GPS-Koordinaten konnte das Team auch Mallorys Überreste nicht an dem Ort finden, an dem sie vor 25 Jahren identifiziert worden waren.
Wir haben eine Drohne bis zu dieser Stelle fliegen lassen. Wir haben Fotos gemacht. Ich habe mir die Fotos sehr genau mit Thom [Pollard] angesehen, der vor Ort gewesen war. (...) Ich denke, wenn Mallorys Leiche noch da gewesen wäre, hätten wir sie gesehen. Das macht keinen Sinn. Warum sollte man die Leiche entfernen?
Waren die chinesischen Behörden involviert?
Für viele Fachleute ist heute klar, dass es die chinesischen Behörden waren, die die Entscheidung getroffen haben, die beiden Leichen zu entfernen. Wie der Guardian berichtet, „könnte die negative Publicity, die um die im Hochgebirge zurückgelassenen Leichen gemacht wurde, ein Grund dafür gewesen sein“. Aber das ist nicht der einzige Grund. Wahrscheinlicher ist, dass die Entscheidung mit der Skepsis des Westens zusammenhängt, der den Erfolg der chinesischen Expedition vom 25. Mai 1960 stets mit Unglauben betrachtet hat. Damals sollen drei chinesische Bergsteiger den Aufstieg geschafft haben und sogar eine Büste von Mao Zedong auf dem Gipfel abgestellt haben. Von dieser Leistung gibt es keine Bilder.
Seit den 1970er Jahren wurden auf dem Berg mehrere Leichen sowie zahlreiche Gegenstände aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg gefunden. Im Jahr 1999 sorgte der Fund von Mallorys Leiche weltweit für Schlagzeilen, doch China schenkte dem Fund damals nur wenig Beachtung. Erst im Vorfeld der Olympischen Spiele 2008 in Peking wurde der "Mount Everest" plötzlich wieder zu einem sehr wichtigen Thema für China. Das Land wollte damals um jeden Preis verhindern, dass bei Demonstrationen auf dem Berg zur Unabhängigkeit des seit 1950 besetzten Tibets aufgerufen wird.
Jamie McGuinness erzählt dem Guardian, wie er 2012 einen Beamten der China Tibet Mountaineering Association (CTMA) fragte, ob Irvines Körper für die Olympischen Spiele abgeholt worden sei. „Er antwortete: ‚Er wurde schon viel früher vom Berg geworfen‘“, erinnerte er sich.
100 Jahre nach ihrem Verschwinden sind die beiden britischen Bergsteiger heute Teil der "Everest"-Legende. „Das wird ein großes Abenteuer“, schrieb George Mallory kurz vor seiner Abreise an seine Mutter.
Dies ist nicht die einzige Geschichte, die über den "Mount Everest" kursiert: So hat etwa eine heroische Hilfsaktion für Corona-Patient:innen auf dem Berg Schlagzeilen gemacht. Ebenso hat ein Bergsteiger für Furore gesorgt, der mit der Besteigung des "Mount Everest" beweisen wollte, dass die Erde rund ist - genauso wie die Information, was mit dem menschlichen Körper passiert, wenn man den "Mount Everest" besteigt.
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Verwendete Quelle:
The Guardian: "‘It doesn’t make any sense’: new twist in mystery of Mount Everest and the British explorers’ missing bodies"
Aus dem Französischen übersetzt von GEO